Regenwetter

Veröffentlicht auf von hanuta

Ich dachte, es wäre nur ein Traum. Nur eine Illusion meines innersten Wunsches. Aber so war es nicht. Es war real. Sie küsste mich. Ihre sanften Lippen berührten meine mit einer unbeschreiblichen Zärtlichkeit.
Doch dann war er plötzlich vorbei. Dieser Kuss, der mir alle Sinne raubte, der mich in den siebten Himmel katapultierte.
Ich öffnete meine Augen und konnte gerade noch erkennen, wie sie mir den Rücken zukehrte und ging.


Der Wecker klingelte mich aus dem Schlaf. Um mich herum drehte sich alles und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit führte mein erster Gang zur Toilette.
Zu viel Alkohol erwies sich bei mir auch am nächsten Tag noch als sehr fatal. Hätte ich doch bloß nicht so viel getrunken. Scheiß Kuss. Der war an allem Schuld. Wäre der nicht passiert, hätte ich gar nicht erst versucht meine Gefühle für sie im Alkohol zu ertränken und müsste nun nicht kotzend über der Toilette hängen.
Nachdem sich mein Magen etwas beruhigt hatte, ging ich in die Küche. Kühlschrank auf, doch beim Anblick des Essens machte mein Mageninhalt eine weitere Kehrtwendung und ich schaffte es mit Mühe und Not wieder zurück ins Bad.
Eine gefühlte halbe Ewigkeit später stand ich zum zweiten Mal in der Küche. Ich hatte einige Aspirin genommen und mir einen Tee gemacht.
Draußen regnete es wie aus Eimern und in zwei Stunden sollte das Turnier beginnen. Dann würde ich sie wieder sehen.
Ich versuchte meine Gedanken zu sortieren. Wie sollte ich reagieren, wenn sie plötzlich vor mir stünde? Was sollte ich sagen? Nichts? Ob ich die Sache mit dem Kuss erwähnen sollte? Ob sie sich überhaupt noch daran erinnerte? Sie war schon ziemlich voll gewesen, oder nicht? Vielleicht hatte sie ja doch Gefühle für mich. Insgeheim wusste ich, dass es nicht so war. Leider.
Ich trank meinen Tee aus, packte meine Tasche und eine viertel Stunde später kam mein Trainer um mich abzuholen.
Je näher wir dem Sportplatz kamen, desto nervöser wurde ich. Ich fühlte mich, als müsste ich mich ein drittes Mal übergeben.
Schon von weitem konnte ich meine Mannschaft sehen und sie.
Wir hielten und ich öffnete die Beifahrertür. Doch auch das Aussteigen aus einem Auto sollte gelernt sein. Ich stolperte über die Fußleiste und landete in einer Pfütze. Eigentlich konnte der Tag nicht mehr schlimmer werden, aber, als ich dann meinen Kopf hob, stand sie auch noch vor mir. So wunderschön. Ihre Haare, ihre Augen, ihr Gesicht. Ohne meine Augen von ihr abwenden zu können, stand ich auf. Sie hatte schon ihr weißes Torwarttrickot an, doch durch den Regen war es durchsichtig geworden. Nun zeichnete sich ein roter BH darunter ab.
Sprachlos stand ich vor ihr. Dann entdeckte ich sie. Die Tränen, die über ihre Wangen liefen.
Du Arsch!” Fassungslos starrte ich sie an. Warum war ich jetzt ein Arsch? Was hatte ich ihr denn getan? Sie war ja wohl diejenige gewesen, die einfach wortlos nach dem Kuss gegangen war.
Arsch?“ ,brachte ich nur leise fragend hervor.
Klatscht! Eine Ohrfeige traf mich mitten im Gesicht. Erschrocken stolperte ich einige Schritte rückwärts, bis ich schließlich am Auto halt fand.
Ey, was sollte das denn? Was ist eigentlich los?” Doch anstatt mir zu antworten, schüttelte sie nur den Kopf und ging. Verwirrt wandte ich mich zu meinem Trainer um: “Was habe ich ihr denn getan?”
Weißt du nicht mehr, was gestern alles passiert ist. Erst habt ihr euch geküsst und dann hast du nicht mal fünf Minuten später mit der nächsten rumgemacht. Dabei war es ihr ernst mit diesem Kuss.”
Glaubst du wirklich? Weil, sie ist doch aufgestanden und einfach weggegangen.”
Ja, aber auch nur weil ihr Handy geklingelt hatte. Doch du hattest schon so einen im Tee, dass du das wahrscheinlich gar nicht mehr realisiert hast.”
Mir fehlten die Worte. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. In meinem Kopf drehte sich alles. Plötzlich konnte ich sie verstehen. Und ja, ich war ein Arsch.
Während des gesamten Turniers gab es keine Gelegenheit mit ihr alleine zu reden. Immer war irgendjemand anderes bei ihr. Davon abgesehen ignorierte sie mich vollkommen. Sogar auf dem Platz spielte sie mir den Ball nicht zu. Dabei tat mir das alles unglaublich Leid. Und sie ahnte wahrscheinlich nicht mal mehr ansatzweise, wie weh sie mir tat, wenn sie mich ignorierte.
Wie gerne hätte ich sie in meine Arme geschlossen. Sie festgehalten, berührt und ihre Nähe gespürt. Doch stattdessen saß ich traurig und frustriert vor den Kabinen. Dort hatte ich wenigstens meine Ruhe vor all den fröhlichen Menschen und vor dem Regen.
Noch ein Spiel hatte meine Mannschaft zu bestreiten. Es war das Spiel um den dritten Platz. Und danach könnte ich endlich wieder nach Hause. Mich in mein kuschlig, warmes Bett legen, einschlafen und nie wieder aufwachen. Oder, wenn aufwachen, dann an einem anderen Ort. Wo es keinen Liebeskummer gab. Wo man sich am besten gar nicht erst verlieben konnte. Dann hätte man auch den ganzen Stress nicht. Keine Enttäuschungen und keinen Streit.
Andererseits würde man auch nicht geliebt werden. Man hätte niemanden, bei dem man sich geborgen fühlen könnte; der einem sagt, wie viel man ihm bedeutet.
Plötzlich riss mich die Lautsprecherdurchsage aus meinen Gedanken: ,,Die Mannschaften für das Spiel um Platz drei finden sich bitte auf Feld vier ein.”
Okay, noch 15 Minuten spielen, dann schnell duschen, die Siegerehrung hinter mich bringen und ab nach Hause, damit dieser schreckliche Tag endlich sein Ende finden konnte.
Das Spiel gestaltete sich als schnell und anstrengt. Beide Mannschaften gaben alles. Dies zeigte auch das Ergebnis nach 15 Minuten. 0:0. Es ging ins 11-Meter-Schießen. Jede Mannschaft hatte drei Schützen. Auf jeder Seite wurde ein mal getroffen und ein mal gehalten. Die dritte Schützin der gegnerischen Mannschaft verschoss. Nun lag es an mir. Versenkte ich den Ball, gewannen wir.
Der Schiedsrichter pfiff und ich schoss oben in den Winkel. Für einen kurzen Moment vergaß ich meine Liebesprobleme und war einfach nur glücklich. Alle kamen angerannt, umarmten mich und freuten sich mit mir über den Sieg.
Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Erschrocken drehte ich mich um. Da stand sie. Mit ihren zauberhaften Augen lächelte sie mich an. In meinem Bauch fing es wie wild an zu kribbeln. So, als hätte jemand einen Schwarm Schmetterlinge freigelassen.
Sie war unglaublich schön, sogar im Regen.
Ich erinnerte mich an die Worte meines Trainers: das es ihr ernst gewesen sei mit dem Kuss. War sie etwa doch in mich verliebt? Dieser Frage ließ in meinem Bauch noch mehr Schmetterlinge frei.
Ohne weiter nachzudenken strich ich ihr über die Wange. Zuerst nur mit den Fingern, dann mit der ganzen Hand. Es fühlte sich nass an, aber nicht kalt.
Ich machte einen Schritt auf sie zu. Unsere Körper berührten sich. Dann lehnte ich meinen Kopf gegen ihren und schloss die Augen. Ihr warmer Atem legte sich auf meine Haut. Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten.
Sie legte ihre Arme um mich und kam ganz nah an mich heran. Dann spürte ich ihre sanften, weichen, nassen Lippen auf meinen. Der Kuss war noch besser als der erste. Er setze in mir Gefühle frei, von denen ich nie geglaubt hätte, dass es sie gab. Leidenschaftliche Gefühle, die unbeschreiblich waren. Unbeschreiblich schön, genauso wie sie.

 

by Hannah Miriam Eckhardt

Veröffentlicht in Kurzgeschichten

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